Kopfgelenktherapie nach Picard
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Anatomischer Hinweis zur Kopfgelenkasymmetrie

Ab Jahresmitte 2009, zuletzt im Juli 2012, wurde vom Autor wiederholt an Kopf-Hals-Präparaten der Anatomie Göttingen folgendes festgestellt:

  • Links zieht der hintere Digastricus-Muskelbauch (Venter posterior musculi digastrici) in der Regel hinter dem Atlas-Querfortsatz (Processus transversus atlantis), rechts vor oder neben demselben her.
  • Der linke hintere Digastricus-Muskelbauch lässt sich um den Atlas-Querfortsatz herumklappen.
  • Der rechte hintere Digastricus-Muskelbauch kann nicht um den Atlas-Querfortsatz herum geklappt werden.
  • Im Bereich des linken hinteren Atlasbogens (Arcus posterior atlantis) konnte in manchen Fällen eine deutliche Verlaufsspur, die vom linken hinteren Digastricus-Muskelbauch herrührte, festgestellt werden.

Der linke hintere Digastricus-Muskelbauch kann entweder hinter dem Atlasfortsatz in seiner evolutionsbiologisch determinierten Nidationsstelle am äußeren Ende des Ansatzes des unteren querlaufenden kurzen Nackenmuskels (Musculus obliquus capitis inferior) bzw. in einer gegebenenfalls entstandenen Furche im hinteren Atlasbogen liegen oder vor dem Atlas-Querfortsatz herlaufen.

In der Regel sind alle Muskelverläufe zwar verschieblich, aber in deren Relation zueinander nicht veränderbar. Hier handelt es sich um eine einzigartige Muskelumlagerungsmöglichkeit, die auch in vivo erfolgen kann und die Grundlage der Kopfgelenktherapie bildet.

In der bisherigen anatomischen Literatur wurde die asymmetrische hintere Digastricus-Muskelführung nicht thematisiert. Zum Nachweis zwei ältere Darstellungen des hinteren Digastricus-Muskelverlaufs: 

Der Digastricus-Muskel trägt bei dieser historischen Darstellung die Nummer 5 und ist mit 'Musculus digastricus mandibulae' bezeichnet. Eisler, Paul: Die Muskeln des Stammes (1902), p. 275
Der Digastricus-Muskel trägt hier die Bezeichnung 'Biventer'. Gegenbaur, C. (1903). Lehrbuch der Anatomie des Menschen. p. 380
  • M. digastricus mandibulae, zweibäuchiger Unterkiefermuskel. Der Muskel besteht aus zwei Bäuchen, die durch eine Schaltsehne verbunden werden. Er zieht von der Incisura mastoidea zur Kinngegend und erlangt auf dem Wege dahin unter winkeliger Ablenkung eine Anheftung an der Seite des Zungenbeinkörpers. Der hintere Bauch entspringt in der Incisura mastoidea des Schläfenbeins teils fleischig, teils sehnig auf einem langelliptischen, gut markierten Knochenfeld; bei schmaler Incisura greift der Ursprung verschieden breit auf die Medialfläche des Processus mastoides über. Die Bündel wenden sich vor-, ab- und medianwärts und bilden einen transversal abgeplatteten Muskelbauch, der sich nach der Sehne zu allmählich verjüngt infolge der fiedrigen Anordnung der Bündel. Eisler, Paul (1902). Die Muskeln des Stammes (pp. 274-284). Verlag von Gustav Fischer, Jena.
  • M. biventer inferioris (Digastricus). Er repäsentiert eine oberflächliche Lage der über dem Zungenbein befindlichen Muskeln. Sein hinterer Bauch entspringt aus der Incisura mastoidea des Schläfenbeins und tritt, von der Insertion des M. sternocleidomastoideus bedeckt, schräg vor- und abwärts, um allmählich verschmählert in eine starke, cylindrische Sehne überzugehen. Diese läuft über dem großen Zungenbeinhorne hinweg und lässt den zweiten Bauch entspringen. Dieser vordere, zweite Bauch verläuft vorwärts zum Unterkiefer, wo er sich kurzsehnig in der Fossa digastrica inseriert. Der Muskel beschreibt einen abwärts convexen Bogen, welcher die Glandula submaxillaris umzieht. Durch den die Zwischensehne umgreifenden Stylohyoideus wird er in seiner Lage gehalten, aber nicht eigentlich fixiert. Dieses kommt vielmehr auf andere Art zustande, entweder dadurch, dass der vordere Bauch nur teilweise aus der Zwischensehne hervorgeht, zum anderen Teil sehnig vom Körper des Zungenbeins entspringt, oder dass von der Zwischensehne her eine Abzweigung zum Zungenbein tritt, oder es findet von der Fascie des Biventer eine aponeurotsiche Fortsetzung zum Zungenbein statt. Gegenbaur, C. (1903). Lehrbuch der Anatomie des Menschen (pp. 379-381). Verlag von Wilhelm Engelmann, Leipzig.

Damit wird deutlich, dass der anatomische Nachweis nicht so einfach sein müsste, da es sich um einen sehr komplexen Muskel handelt, der aufgrund seiner Qualität und seines Verlaufs mittels anatomischer Sektion nur schwer darstellbar sein dürfte. Man muss sich dabei stets dessen bewusst sein, dass die Kopfgelenkasymmetrie ein hoch reversibles Phänomen ist: Eine asymmetrische Digastricus-Muskelführung kann sich post mortem sehr leicht symmetrisieren. Dies ist wahrscheinlich bei anatomischen Präparaten die Regel. Wenn schon beim lebenden Menschen die Digastricus-Muskelführung so leicht umkehrbar ist, muss dies bei entsprechender Manipulation auch beim Verstorbenen der Fall sein. Nicht umsonst hat die makroanatomische Forschung bis dato von der asymmetrischen Digastricus-Muskelführung keine Notiz nehmen können. Es bedurfte des hier vorliegenden, ausreichenden Fundus an dokumentierter Kasuisitk, um das Phänomen überhaupt zu bemerken. Erst die Entdeckung der Reversibiltität der Digastricus-Muskelführung am Lebenden hatte nämlich die Frage nach dem anatomischen Substrat und seiner Darstellbarkeit aufgeworfen.


Die hohe Reversibilität der Kopfgelenkasymmetrie hat dazu geführt, dass letztere seit Jahrhunderten an anatomischen Präparaten nicht entdeckt werden konnte. Vielmehr führte allein die aktuelle Klinik zum Postulat der asymmetrischen Digastricus-Muskelführung. In diesem Zusammenhang wurde wiederholt an anatomischen Kopf-Hals-Präparaten festgestellt, dass der hintere Digastricus-Muskel ausschließlich links um den Atlasfortsatz herumklappbar ist; außerdem wurden in Einzelfällen Verlaufsspuren am linken hinteren Atlasbogen fest gestellt.